Montag, 12. November 2012

Ein Interview mit Ralf Dose (von Manfred Müller)


Der Ort SüdEnde
Interview mit Ralf Dose, Berlin-Südende
(Von Manfred Müller)
Wie bist Du auf die Idee gekommen, eine Weltnetzseite über die Geschichte Deines Heimatortes zu veröffentlichen?
Ich bin 1973, im Alter von fünf Jahren mit meinen Eltern nach Südende gezogen und lebe seitdem hier. Im Laufe der Zeit merkte ich, daß es sich bei diesem kleinen Südende um einen geschichtsträchtigen und historisch interessanten Ort handelt, der allerdings, vor allem durch jene Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und die spätere Eingemeindung in Steglitz, bei einem Großteil der Berliner Bevölkerung in Vergessenheit geriet oder gar völlig unbekannt ist. Zudem ist er ständig in Veränderung begriffen und das bis heute. So entstand zunächst ein persönliches Staunen und später der Gedanke, daß man evtl. einmal ein Buch herausbringen könnte.
Ich lernte dann am Ende der 80er Jahre mit Wolfgang Holtz und Christian Simon gleich zwei "professionelle Hobbyhistoriker" kennen und staunte immer mehr über diese Historie Südendes. In den 90ern hatte ich allerdings viel zu viel andere Projekte um die Ohren, so daß sich die Buch-Idee von selbst erledigte.
Erst als ich 2005 wieder einmal partnerlos und zudem auch arbeitslos da stand, begann ich relativ spontan und doch ernsthaft, die Weltnetzseite aufzubauen. Der Vorteil gegenüber einem Buch liegt daran, daß man Fehler nachträglich verbessern, neues Wissen oder Bilder hinzufügen kann. Außerdem hatte ich kein finanzielles Risiko und konnte unabhängiger arbeiten. Ich wollte meinen Teil dazu beitragen, Südende vor dem Vergessen zu retten und seine wechselhafte und interessante Geschichte meinen Mitbürgern und der Nachwelt erhalten. Das Thema Südende wurde noch nie im Internet komplett abgehandelt, die Zeit war 2005 reif, um dies selbst in die Hand zu nehmen. Die beiden o.g. Herren haben ja vor kurzem tatsächlich ein Buch über Südende herausgebracht, welches meine Seite ergänzt.
Inwieweit bist Du mit Deiner Seite zufrieden?
Einerseits gehört das Südende-Projekt zu den aus meiner Sicht sinnvollsten Dingen, die ich in meinem Leben geschaffen habe. Ich bin zwar ein ziemlicher Perfektionist, aber weit davon entfernt perfekt zu sein. Allein technisch und organisatorisch stößt man oft auf Grenzen. Andererseits würde ich über 40.000 Besucher durchaus als Erfolg bezeichnen. Die meisten Reaktionen waren sehr positiv. Es gibt natürlich vieles, was man noch in die Wege leiten könnte, aber ich will es auch nicht übertreiben, die Menschen können und sollen sich schließlich vor Ort ihr eigenes Bild machen können. Was ich mir allerdings nie verzeihen werde, ist daß ich hier seit meinem fünften Lebensjahr wohne, ganz Deutschland und Europa bereist habe und dabei zehntausende Fotos gemacht habe, es aber dabei völlig versäumt habe, die Veränderungen in Südende auf Bildern festzuhalten. In dieser Zeit, also von 1973-2005 hat sich hier unheimlich viel verändert und ich habe große Probleme, nachträglich Bilder aus dieser Zeitspanne aufzutreiben. Man findet sehr viel leichter uralte Postkarten aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als relativ jüngere Aufnahmen. Diesen Fehler werde ich mir wahrscheinlich nie wirklich verzeihen können. Davon abgesehen, mußte ich irgendwann mein Gästebuch (etwa 100 Einträge im Jahre 2006) entfernen, weil es mir irgendein Spam-Roboter versaute.
Nenne doch einmal einige Beispiele, was sich in den genannten Jahren in Südende veränderte!
Als ich hierherzog war der Steglitzer Damm noch einspurig und die älteren und größeren Bäume auf dem heutigen Mittelstreifen, zwischen der Crailsheimer Straße und der Attilastraße, waren damals die äußere Fahrbahnbegrenzung. Der Bereich zwischen Buhrowstraße und dem Bahnhof sah noch völlig anders aus. Es gab in der alten Ladenzeile, direkt am Bahnhof u.a. einen kleinen Tabakladen und ein großes Malerei- und Tapetengeschäft. An die Neubauten etwa in der Buhrowstraße, das Eisenbahnbundesamt am Steglitzer Damm oder etwa die modernen Firmengebäude in der Kelchstraße, war noch nicht einmal zu denken. Ebenso gab es etwa die Reihenhäuser im Karl-Fischer-Weg, bzw. der Gurlittstraße noch nicht oder auch die Mietshäuser in der Sembritzkistraße, Ecke Oehlertring. Stattdessen gab es eine ganze Reihe von kleineren Laubenkolonien, vor allem in der Buhrowstraße, am Steglitzer Damm und am Karl-Fischer-Weg.
An anderer Stelle standen Ruinen, welche heute abgerissen sind oder, wie in der Kelchstraße, urige Firmengelände. Drei der gröbsten und deutlichsten Einschnitte waren natürlich der Bau des "Lidl"-Supermarktes und die Schließung/ Wiedereröffnung der S-Bahn-Linie, sowie später der Ausbau der Bahntrasse für den Fernverkehr. Dieses konnte ich aber einigermaßen gut mit Bildern dokomentieren.
Fühlst Du Dich heute wohl in Südende?
Obgleich ich selten ernsthaft in Verlegenheit kam, hier weg zu ziehen, es ist und bleibt eben so oder so meine Heimat, schon der Blick aus dem Fenster macht mich wütend und traurig. Der ständige Lärm durch Baustellen oder von Nachbarn macht mich regelrecht krank. Und dennoch: Das vertraute Rauschen der Züge, die verbliebenen Bäume, die Pfuhle, die hier lebenden Tiere usw., all das ist ein Stück Heimat, dem ich mich verbunden fühle. Ich umarme durchaus gerne mal einen alten Baum oder freue mich, wenn ich zum Beispiel einem Fuchs begegne. Sollte ich die vermeintlich richtige Lebenspartnerin finden oder sie mich, dann würde ich nicht zögern, freiwillig die Kisten zu packen, aber wer hält es schon mit mir aus? Vermutlich werde ich also irgendwann einsam und unglücklich in Südende sterben.
Fühlst Du Dich auch als Steglitzer?
Auch, aber zuerst mal als Südender! Südende ist nur verwaltungstechnisch, also auf dem Papier und vom Gesetz her ein Teil von Steglitz. Schon früher, als Südende offiziell zu Mariendorf gehörte, fühlte man sich hier als etwas Eigenes, etwas Besonderes, dies hat sich bis heute nicht wesentlich geändert, denn noch heute sagt man zum Beispiel, wenn man etwa zum einkaufen in die Steglitzer Schloßstraße fährt, 'man fährt mal eben in die Stadt'. Das ist schon ein deutlicher Lokalpatriotismus, ebenso wie sich zum Beispiel in Vereinsnamen oder bei der Angabe von Anschriften, das 'Südende' meist gegen das 'Steglitz' durchsetzt. Leider sind wir nichtmal mehr ein eigener Ortsteil, wie etwa Lankwitz oder Lichterfelde, deshalb fehlen auch entsprechende Ortsschilder an den Hauptstraßen. Grund genug, erst recht eine Seite über Südende zu erstellen.
Wenn Du die Möglichkeiten hättest, was würdest Du in Südende heute verändern wollen?
Nun, so wie es einmal war, wird es ja leider nie wieder werden. Auch ein Grund dafür, daß ich meine Seite ins Leben rief. Inzwischen sind ja einige Gedenktafeln für ehemalige Südender an verschiedenen Häusern angebracht worden. Dieses könnte man natürlich ausbauen, auch etwa mit Fotos und Infotexten an bestimmten Stellen, ähnlich wie es vor kurzem rund um die Potsdamer Straße in Schöneberg umgesetzt wurde. Wenn die Neugründung eines eigenständigen Ortsteils Südende leider ein Wunsch bleiben wird, der sich mit den heutigen Politikern nicht umsetzen läßt, so wäre es doch aus meiner Sicht machbar, daß man zumindest an drei oder vier verkehrstechnisch markanten Punkten die Grenzen durch Hinweisschilder oder Markierungen im Straßenpflaster/ auf dem Bürgersteig wieder sichtbar machen würde. Allerdings sehe ich auch immer die Gefahr eventueller Sachbeschädigungen bei solchen Vorhaben. Das bisher einzige Südender Ortsschild, welches sich im Hanstedter Weg befand, ist ja leider inzwischen auch völlig zerstört worden. Vielleicht sollte man regelmäßige Ortsführungen anbieten.
Wie stehst Du zu der aktuellen Diskussion um eine Gedenktafel für Rosa Luxemburg in Südende?
Ich bin selbstverständlich dafür. Nicht aus politischen, sondern aus historischen Gründen. Wenn es nach mir ginge, würde es hier sowieso viel mehr solcher Hinweis- und Gedenktafeln geben, wobei es gleich wieder Streit über Formulierungen gibt, sich die Frage stellt, wer überhaupt eine entsprechend 'bedeutende Person' ist und wer nicht und schließlich scheitert es dann spätestens am Geld. Das Beispiel der ständigen Straßenumbenennungen, wie jetzt wieder bei der Steglitzer Treitschkestraße und die nicht endende Diskussion darüber, schließt sich dem der Gedenktafeln direkt an. Und ich finde außerdem, daß es nicht nur für bekannte Persönlichkeiten solche Tafeln oder Steine geben sollte, sondern auch für zerstörte Gebäude zum Beispiel. Früher gab es hier an jeder Ecke eine Telefonzelle, einen Briefkasten und eine Litfaßsäule. Heute ist man froh, wenn man noch ein BVG-Wartehäuschen oder eine Telefonsäule findet, die nicht zertrümmert ist oder eine Hauswand, die nicht voll von Schmierereien ist. Sogar einem Kulturgut, wie den alten Gasleternen geht es an den Kragen.
Bist Du jemals für die Arbeit an dieser Seite bedankt oder geehrt worden?
Ich bekam tatsächlich einmal eine Einladung von Herrn Wowereit, als "Botschafter der Stadt Berlin". Ich hab es mit dem nötigen Galgenhumor genommen. Der wirkliche Lohn besteht nur darin, daß man ein wenig stolz sein kann, überhaupt irgendetwas einigermaßen sinnvolles geschaffen zu haben und vor allem, daß man dadurch eine ganze Reihe Menschen kennen lernen konnte, die sich darüber freuen können und, wie ich selbst natürlich auch, etwas dazu lernen konnten. Den ganzen Aufwand, den ich dafür betrieben habe, würde ich mir aber wohl auch kein zweites Mal freiwillig antun.
Bist Du selbst politisch oder religiös aktiv?
Wie man es nimmt. Ich sage schon deutlich meine Meinung, wenn ich es für angebracht halte. Aber ich hab es aufgegeben, die Menschheit ändern zu können oder dem Irrglauben zu verfallen, daß sich diese irgendwann einmal einig sein wird und auf einen Nenner kommt, im Kleinen, wie im Großen. Heutzutage zählen Werte wie Ehrlichkeit und Moral nicht mehr, die Menschen belügen und betrügen, knechten und verarschen sich selbst und gegenseitig. Dabei zerstören sie nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch noch die Umwelt und das ist das für mich Schlimmste an dieser Entwicklung. Die meisten verstehen und erkennen nichts, können Wahrheit nicht von Wirklichkeit unterscheiden und halten dabei sich für übergöttlich und unfehlbar. So wie die Menschheit sich aus der Natur entfernt hat, entferne ich mich Tag für Tag mehr von dieser kaputten Gesellschaft. Leider bin ich selbst unheilbar an der Bing-Horton-Neuralgie erkrankt, was mich stark einschränkt. Da bleibt für aktive Politik einfach wenig Motivation in mir übrig. Den Glauben an die Menschheit an und für sich, habe ich längst verloren. Auch dieses Volk ist zu einer Bevölkerung aus Ja-Sagern, Konsum- und Spaßsklaven mutiert, das Ostern und Weihnachten feiert, wenn es der Kalender vorschreibt und nicht wenn es der Sonnenstand wirklich vorgibt. Besonders für Tierrechte und Umweltschutz setze ich mich aber zum Beispiel weiterhin aktiv in der Öffentlichkeit ein. Meinen Sarkasmus und Selbstironie erhalte ich mir.
Danke Dir für die Beantwortung der Fragen. Zukunftspläne? Hast Du noch einen abschließenden Satz auf dem Herzen?
Ich bedanke mich ebenfalls! Die Zukunft sehe ich als vom Schicksal und den Göttern vorgegeben an. Heimatkundlich gesehen, bin ich zur Zeit vor allem damit beschäftigt, beinahe die ganze Stadt Berlin in Bildern abzulichten. Das betrifft z.Bsp. die Reste der ehemaligen Berliner Mauer, 221 Friedhöfe und noch vieles andere mehr. Einiges kann man bereits in verschiedenen Gruppen auf der Seite album.de sehen, wobei es praktische Unterteilungen gibt, wie Konzert, Gräber, Bahnhöfe, Brücken, Gedenkstätten, Laternen, Brunnen, Türen, Fenster, Schilder, Wappen, Uhren, Zahlen, bis hin zu auf dem ersten Blick vielleicht etwas irgendwie Kuriosem, wie z.Bsp. verschiedenen Bänken, Gullydeckeln oder Mülleimern. Da es auf album.de ebenfalls, neben der Gruppe "Berlin (GA)", eine weitere mit dem Thema der "Mark Brandenburg" gibt, wird es mir die nächsten Jahre, zumindest in dieser Beziehung, mit Sicherheit nicht langweilig werden.